Geschenkte Zeit

Eine meiner ersten Geschichten, ca.2015.

zurück zum Inhaltsverzeichnis

„Jede Geburt beendet ein Warten.

Und die Zeit der Ungewissheit ist vorbei:

Was ungewiss war, bricht sich unwiderruflich Bahn.

Und indem es sich Bahn bricht, nimmt es seinen Anfang.

Es beginnt, eine Zeit zu haben.“

(Paola Mastrocala)

 

Niemand schien mich zu beachten.

Ich stand einfach nur da.

Kopf gesenkt, mit dem Rücken an der Wand lehnend.

Die Ärtze schoben eilig ein Bett in den Raum mir gegenüber.

Dem Bett folgten 2 Hebammen und ein völlig aufgelöst wirkender Mann.

Nachdem sie im Raum verschwunden waren, folgte ich ihnen.

Auch sie bemerkten mich nicht.

 

Als sich die Türe hinter mir schloss, stand ich einfach nur da.

Wie aus Reflek fuhr ich mit meiner Hand in meine rechte Hosentasche.

Ich umspielte den kalten, metallischen Gegenstand in der Tasche.

 

Der Raum hatte die Form eines Halbkreises.

Das Bett der Frau stand ziemlich zentral an der einzigen geraden Wand.

Einer der Ärzte hatte ein Monitoring-System neben das Bett gestellt und die Frau daran angeschlossen.

Der Mann, der aussah als hätte er schon länger nicht mehr geschlafen, hatte sich am Kopfende des Bettes, welches höher gestellt war, auf einem Hocker niedergelassen.

Er hielt die Hand der Frau.

Die Frau konnte ihre Augen kaum noch offen halten.

 

Ich nahm die Taschenuhr aus meiner Tasche.

Ich klappte sie auf und sah auf das silberne Zifferblatt.

00:21

 

Ich ging auf die andere Seite des Zimmers.

Dort auf einem Tisch, unter dem einzigen Fenster des Raumes, lag die Akte der Frau.

Ich setzte mich auf den Stuhl davor.

Den Namen und das Alter brauchte ich gar nicht zu lesen, zu oft hatten sie in meinem Kopf schon umher gehalt.

Laut Akte war sie in keiner Guten Verfassung.

Sie erwartete ein Kind.

Doch sie habe während der Schwangerschaft unerwartet Gestose bekommen.

Innerhalb weniger Stunden hatte diese ”Schwangerschaftsvergiftung” ihren Blutdruck in die höhe schießen lassen.

Sie war mit schweren Kopfschmerzen und Sehbeeinträchtigungen ins Krankenhaus gekommen.

Sie wurde wegen starken Oberbauchschmerzen unter Schmerzmittel gestellt.

Und zu allem überfluss sollte nun auch noch das Kind kommen.

 

Als ich mit der Akte fertig war, warf ich erneut einen Blick auf meine Uhr.

00:07

Mich beachtete man immer noch nicht.

 

Das Piepen des Monitoring-Systems setzte ein, als ich aufstand und mich wieder dem Bett zu drehte.

Die Frau schrie auf, während ihr Körper in einem Hohlkreuz verkrampfte.

Ein langgezogener hoher Schrei voller Schmerz, der langsam zu einem Krächzen wurde, während ihr die Luft ausging.

Die Hebammen hielten sie unten auf der Matratze.

Der Mann war aufgestanden und starrte mit glasigen Augen auf seine Frau.

Ein weiterer Arzt kam dazu. Infusions- und Bluttransfusionsbeutel wurden aufgehängt und angeschlossen.

 

00:05

 

Ich ging langsam auf das Bett zu.

Aus dem Gesicht der Frau war alle Farbe gewichen.

Das durchdringende Piepen wurde schneller.

Grüne Blitze zuckten über den Monitor, während um mich herum alles zu verschwimmen begann.

 

00:03

 

Aus dem Piepen ist ein Dauerton geworden.

Ein Arzt hält den verzweifelten Mann zurück, der sich zum Bett seiner Frau vor drücken will.

Die anderen Ärzte sind mit einem AED über der Frau am schaffen.

 

00:02

 

Ich stehe mit den Ärzten am Kopfende des Bettes und schaue auf ihr weißes Gesicht herab.

Der Mann wird unter Tränen aus dem Saal begleitet.

Seine Frau bleibt bewegungslos, nur unterbrochen durch die Zuckungen des Defibrillators.

 

00:01

 

Ich stehe dort.

Eine Hand in meiner linken Hosentasche, mit der andern die Uhr umschließend.

Die Ärzte wollen noch versuchen das Kind zu retten.

 

00:00:10

 

Ich fange an, langsam an der Aufzugskrone der Uhr in meiner Hand zu drehen.

Während ich drehe wird der kleine Zeiger langsamer.

 

00:00:07

 

Ich drehe schneller.

Ich hätte nicht gedacht das es wirklich funktionieren würde.

 

00:00:06

 

Der kleine Zeiger kommt zum Stillstand

 

00:00:05

 

Ich drehe weiter.

Die Zeiger beginnen sich entgegen der Zeiger Richtung zu drehen.

 

00:00:06

 

Ich lasse sie laufen.

Immer schneller und schneller.

 

00:10

 

Meine Drehbewegung wird langsamer.

So viel Zeit sollte reichen.

 

00:10:30

 

Während die Zeiger wieder langsamer werden setzt plötzlich wieder das Piepen des Monitoringsystems ein.

Erst unregelmäßig, dann immer flüssiger.

Wie bei einem Motor, der nach langer Standzeit wieder angeworfen wird.

 

00:11

 

Die Zeiger fangen an, sich wieder in die Richtige Richtung zu drehen und die Zeit verstreicht.

Ungläubig werden die Ärzte ruhig.

Sie stehen da und schauen auf die Frau.

Ihre Brust hebt sich in tiefen regelmäßigen Zügen.

 

Dann wird alles ganz hektisch um mich herum.

Die Ärzte und Hebammen wuseln um mich herum, während auch wieder der Mann in den Saal gehohlt wird.

Das Bild verschwimmt.

Ich setze einen Fuß hinter den anderen, entferne mich vom Bett, bis ich wieder an der Wand lehne.

 

00:04

 

Die Restliche Geburt verlief schnell und ohne Probleme.

Der Vater des Kindes durfte die Nabelschnur durchtrennen.

Die angespannte Stimmung war einer eher fröhlichen Atmosphäre gewichen.

 

00:01

 

Die Hebammen haben das Baby etwas sauber gemacht.

Es wird vom Vater an die Mutter übergeben.

Sie liegt in ihrem Bett, lächelt auf ihren kleinen Sohn herab.

Ihre Augen blitzen.

 

00:00:30

 

Es ist ein schöner Anblick. Die Hebammen und Ärzte halten Abstand, während die Familie zusammen am Bett sitzt, die Köpf aneinander gelehnt.

 

00:00:20

 

Die Mutter schließt Augen und lässt sich zurück in das Kissen sinken.

Der Vater greif stützend nach ihrer Hand und dem Kind.

Ich gehen zu einer Reihe Stühle die neben der Türe an der Wand stehen und setze mich.

 

00:00:05

 

Der Mann beugt sich über die Frau. Eine Träne rinnt über seine Wange.

Während er ihr sanft auf die Stirn küsst, atmet sie ein letztes Mal tief aus und eine kleine Blaue Wolke verlässt ihren Mund.

Wieder halt das durchgehende Piepen durch den Raum.

 

00:00:00

 

Die Wolke wabert erst etwas durch die Luft, bevor sie anfängt langsam eine symmetrischere Form anzunehmen. Auf ihren Seiten ziehen sich Rauchschwaden zu Flügeln zusammen.

Nachdem die Konturen schärfer werden nimmt ein kleiner Schmetterling Kurs auf mich und lässt sich auf dem freiem Stuhl neben mir nieder.

 

Ich schaue wieder auf die Uhr in meiner Hand. Die hintere Klappe hat sich gelöst und auf meiner geöffneten Hand liegen ein paar kleine Federn und Zahnräder.

Auch das Uhrenglas ist zersprungen.

Langsam schließe ich den Deckel und werfe einen letzten Blick auf das Bild der Frau, die den Deckel ziert, bevor ich sie wieder in meiner Tasche verschwinden lasse.

 

Ich drehe mich wieder ihr zu. Sie sitzt genau da, wo der Schmetterling gelandet ist.

Sie schaut mich mit großen Augen an.

“Vater?!”

Ich nicke langsam.

“Was ist passiert?” fragt sie.

“Du wirst es sehr schnell selbst herausfinden.” erwiderte ich,

“Mein Warten hat ein Ende, aber du wirst noch einige Zeit hier bleiben dürfen.”

Ich stand auf und stellte mich vor sie. Meine Hand gleitet langsam in meine linke Hosentasche und befördert eine zweite Taschenuhr hervor.

Als ich sie ihr mit leicht bläulich umspielten Händen reiche, denke ich so etwas wie Erkenntnis in ihrem Gesicht zu erkennen.

“Entschuldigung für das was ich getan habe.”

 

Ich hatte nur Augen für die Uhr, die mein Vater mir gegeben hatte.

Mittig auf ihrem silbern umwobenen Deckel war ein Bild meines Sohnes eingelassen.

Als ich wieder aufsah, war mein Vater verschwunden.

An seiner Stelle saß ein kleiner blauer Spatz, der mich mit schief gelegtem Kopf ansah.

Ich spürte wie mir das Wasser in die Augen stieg.

Während der Vogel sich erhob und durch das Fenster hinfort flog öffnete ich die Uhr.

Sie sah anders aus als die meisten Uhren.

Sie hatte auch Zeiger für Tage und Jahre.

Und sie zählte von einem festen Zeitpunkt rückwärts.

 

74:104:23:47:12

 

Wenn man den Geburtszeitpunkt meines Sohnes als Startzeitpunkt nahm, stand die Uhr aber nicht ganz auf ihrem Maximum.

 

Es fehlten 11 Minuten.

zurück zum Inhaltsverzeichnis