Kapitel 17 – Caligo

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Für seinen ersten Dienst trat Vim am Haupttor der Station an.

Als er dort ankam, so wie es ausgemacht war, wurde er von Ric erst einmal der anderen Wache vorgestellt. Nummer 312, Max, würde die Leitung haben und er war mehr oder weniger der Mitläufer in seinen Wachschichten. Ric gab ihm auch zu verstehen, das er diese Dienste als eine Art Probezeit zu verstehen habe und das er noch keine Waffe ausgehändigt bekommen würde. Das war vielleicht als Vorsichtsmaßnahme gedacht, nicht das er ein ähnliches Ziel wie Lux hatte, oder aber genau das was er ihm sagte, er müsse erst eine Schießübung und einen kleinen Grundkurs in der Handhabung der Waffe absolvieren, bevor er Hand an eine Legen dürfe.

Dann verabschiedete sich Ric schon wieder und stapfte in Richtung der Treppe zur oberen Galerie davon und ließ sie alleine dort stehen. Vim folgte Max zum Haupttor und der auf der Innenseite Wachhabende entriegelte die beiden großen Apparaturen die das Tor versiegelt hielten und schob sie dann ein Stück auf, das sie durch den Spalt nach draußen schlüpfen konnten.

Vim Strich mit seiner Hand über die unebenen Metallbeschläge die die Außenseiten des Tores ausmachten. Die Stärke der Tür war mehr als eine Hand breit wie er feststellte. Vor was auf der Außenweltseite müssen sie uns schützen können, das sie so eine Dicke haben, fragte sich Vim, traute sich aber nicht Max laut danach zu fragen, sondern huschte nur leise hinter ihm her. Sobald sie beide durch den Spalt hinaus in die Sonne getreten waren wurde das große Tor hinter ihnen wieder mit einem lauten Knarzen zugeschoben und Vim war endlich heraußen.

An der frischen Luft.

 

Die Welt, von der er bisher noch nicht so viel durch den Spalt des Tores bei Luxs Prüfung gesehen hatte, leuchtete fast in dem grellen Licht der Sonne. Vim musste mehrere Male blinzeln und auch erst dann war es ihm mit vorgehaltener Hand und tränenden Augen möglich sich ein wenig genauer umzusehen.

Vor dem Hauptzugang zum Livestock, es gab mehrere unbekannte Nebeneingänge wie er vorher erfahren hatte, eröffnete sich ein großer Platz der von dem ganzen Schutt außenrum befreit war. Der Platz wurde, so wie es ihm Max erklärte, hauptsächlich als Parkplatz für die Karren der Suchtrupps verwendet. Ab und zu, je nach Jahreszeit, sei es aber auch schon mal möglich das ein paar kleinere Flächen zu Beeten umfunktioniert wurden, da das was hier oben wuchs noch einmal deutlich besser schmeckte und auch sicher gesünder war. Momentan war das aber nicht der Fall.

Die Trupps waren heute schon unterwegs, da sie beide mit ihrer Schicht etwas später dran waren als normalerweise üblich. Ab dem nächsten Tag sollte Vim sich etwas eher aus den Federn bewegen.

Die Reste der Gebäude die einst um den Platz herumgestanden waren, auf dem sich der Parkplatz und der Eingang in die Haupthalle befinden, sahen noch schlimmer aus als Vim es sich durch Luxs Erzählungen vorgestellt hatte. Die Fassaden waren fast komplett heruntergebröckelt und an ihre Stelle traten Skelette aus Betonsäulen und Metallstreben die sich trotzdem noch bis hoch in den Himmel aufbauten. Wo früher mal Bürgersteige und Hauseingänge waren lag nun meterhoch der Schutt. Wohingegen die Straßenschluchten, die die bedrohlichen Mauerwerke trennten erstaunlich leer und freigeräumt waren.

Vim trat einige Schritte auf den Platz hinaus und die kleinen Betonbrösel und Steinchen knirschten wie malmende Zähne unter den Sohlen seiner Stiefel.

“Ja nicht weglaufen!” rief Max hinter ihm. Seine dunkle Stimme halte ein wenig von den Ruinen zurück.

“Hab ich auch nicht vor,” antwortete Vim, “aber ich muss mal durchatmen. Vor allem wenn ich schon mal raus komm.”

Nach guten zwanzig Metern drehte er sich zum Livestock und zu Max um.

Es vergass fast zu atmen als seine Augen das alles erfassen, was es dort zu sehen gab. Der Zugang zum Livestock und das Haupttor waren wie ein Teil eines alten Tempels. Vier eckige, gräulich melierte Säulen erstreckten sich über beide Ebenen, die es auch auf der Innenseite der Halle gab gen Himmel. Auf Ihnen thronte ein kleines Dach, das zu einem niederen Giebel spitz zusammen lief. Um das Tempelbild zu vervollständigen fehlten hier nur noch ein paar weiße Stufen, die man erst emporsteigen müsste um die Pforte zu erreichen.

Das ganze Gebilde ragte nur ein kleines Stück auf der Seite einer großen Fassade hervor, die mit großen grauen kachelartigen Platten belegt war. Die nicht durch Bomben oder die Zeit zerstörten Reste eines dreckigen Umrisses in einer der oberen Gebäudeecken ließen ein paar Buchstaben erkennen, was die Vermutung nahe legte, dass es sich um ein Einkaufszentrum handelte. Und die Götter werden vermutlich ihre Hände darüber gehalten haben, dacht Vim, nachdem er noch einen Blick auf die anderen umliegenden Gebäude geworfen hatte, den im Vergleich zu diesen war das Kaufhaus mit der U-Bahn Station fast noch zur Gänze erhalten.

“Verwunderlich, gel?” Max musste seinen Gesichtsausdruck gesehen und richtig gedeutet haben.

Vim riss sich von der Fassade los und schritt wieder zu ihm vor das Tor zurück.

“Die Götter kümmern sich echt mehr um uns als ich dachte.” murmelte Vim, auch wenn er es in seinem Inneren immer noch nicht als die Wahrheit ansah. Immerhin hatten sie bis jetzt immer noch nichts von sich für ihn verlauten lassen.

“Das kannst du laut sagen das die uns da mehr als nur den Arsch gerettet haben. Murmeln ist da schon fast Gotteslästerung so wie du das machst.” Max lachte los.

“Kann man wohl so sagen.” meinte Vim bevor er zögerlich mit in das Lachen einstieg, auch wenn ihm nicht gerade danach zumute war. Aber es zog ihn einfach mit.

Nachdem das Lachen abgeklungen war standen sie eine Zeit lang einfach nur nebeneinander am Tor. Mal näher zusammen, mal weiter auseinander. Ab und zu saßen sie auch abwechselnd ein bisschen auf einem größeren Brocken der rechts neben dem Zugang lag. Vims Blick hing die ganze Zeit über den Ruinen, während er dort saß, aber mehr gab es auch nicht wirklich zu sehen. Was ist hier nur vorgefallen, dachte er sich. Vermutlich ein Streit um Ressourcen oder um eine Ideologie. Wer weiß schon wozu die Menschheit alles fähig war, bevor sie anscheinend vom Antlitz der Erde verschwand.

“Ich habe ihn gekannt.” sagte Max plötzlich und riss Vim damit aus den Gedanken.

“Gut sogar.”

“Wen meinst du?” fragte Vim, vielleicht hatte er ja einen Teil des Gespräches verpasst als seine Gedanken wandern waren.

“Wen werde ich wohl meinen, wenn ich mit dir rede.” Max klang genervt. “Fallen dir etwa gleich mehrere Leute ein die uns verlassen haben? Denk doch einfach etwas nach bevor du deinen Mund aufreißt.”

Jetzt war es Vim schon klarer worum es nun ging.

“Es tut mir Leid was passiert ist.” begann er, und dann wusste er auch schon nicht mehr weiter was er sagen sollte. Somit entstand wieder eine kleine Pause.

“Dir muss es nicht Leid tun. Was kannst du denn schon dafür…” Max war nun etwas leiser und man hörte die Niedergeschlagenheit in seiner Stimme. “Und selbst wenn, was würde das schon ändern. Da kannst du dir dein ‘Es tut mir Leid’ sonst wohin schieben.” Er atmete tief aus.

“Er war so ein netter Kerl bevor dein empfohlenes Arschloch ihn erschossen hat. Eigentlich sollte es dafür schon eine Strafe geben. Und ich hoffe auch, dass die auf ihn nieder fährt. Was mit dir geschieht ist mir eigentlich relativ wurscht solange du nicht auch gleich mit einer Waffe hinter meinem Rücken rum hantierst. Aber ihn. Ihn sollte man an eine Wand stellen und einfach abdrücken. Solche Leute haben es nicht verdient von uns noch länger durchgefüttert zu werden.”

Während Max redete war seine Figur in sich zusammengesunken und er beachtete Vim auf seinem Stein schon gar nicht mehr.

“Er mag zwar ein Einzelgänger gewesen sein, aber er hat seine Sache gut gemacht. Sehr gut eigentlich sogar. Weißt du überhaupt was er gemacht hat?”

Vim schüttelte den Kopf, aber auch das blieb unbemerkt.

“Er war in der parallelen Sicht zu uns nun. An seine Stelle ist jetzt mein alter Kollege gerutscht und ich muss mich mit dir hier abgeben. Die alten Dienste waren einfach nur angenehm. Und ich hoffe für dich, dass wir das auch für die neuen Dienste schaffen.”

Nun war der Blick zum ersten Mal wieder beim Vim und er musste erst einmal schlucken. Was würde nun noch kommen.

“Aber ich glaube nicht, dass das so ein großes Problem werden wird. Über dich hört man nicht wirklich was schlechtes, im Gegensatz zu dem schießwütigen Penner, und du sollst ja auch anständig arbeiten. Das wird glaub ich.” Wieder atmete Max tief aus.

“Das glaube ich auch, dass wir das zusammen schaffen.” erwiderte Vim, aber so richtig sicher fühlte er sich dabei nicht.

Max nickte nur und dann herrschte wieder betretenes Schweigen zwischen ihnen.

So verging wieder einige Zeit, bis Vim schließlich fragte, was die Autotrupps eigentlich machten. Er hatte immerhin noch nicht gehört das sie eventuell fuhren um Lebensmittel zu beschaffen oder zu jagen.

Max erklärte es ihm sehr knapp, auch wenn es Vim gerne ein klein Wenig ausführlicher gehabt hätte.

“Sie fahren im Morgengrauen raus und beginnen dann mit ihrer Suche nach dem, was die Götter nun mal von uns gefordert haben. Das ist Momentan eine etwas schwierigere Angelegenheit. Also die Sache. Und nur deshalb durftest du so schnell hier mit einsteigen. Seit ein paar Tagen sind sie drauf und dran irgendwo ein paar Fässer Ammoniak aufzutreiben.

Natürlich nehmen sie aber auch andere Sachen für den Livestock mit zurück. Feldbetten, Zelte, Werkzeuge. Alles wofür wir eine Verwendung haben könnten.”

Das waren dann auch schon alle Worte die darüber verloren wurden. Und sie hüllten sich wieder beide in Schweigen.

 

Langsam kehrten auch die Autotrupps zurück. Zusammengebastelt aussehende Pickups und ein kleiner offener Lastwagen ohne Plane. Die Fahrzeuge sahen mehr aus wie Puzzle, bei denen einige Teile falsch zusammen gesetzt wurden. Und der Rost hatte mehr als nur die Ränder befallen. Einige von ihnen waren auch durch Erweiterungen umgebaut und erinnerten entfernt an große, metallische Tiere die zu ihrem Bau zurück krochen.

Als die letzte Karre wieder auf den Sammelparkplatz zurück getuckert war und die letzten Wächter ihr Zeug in die Haupthalle oder Nebeneingänge verfrachtet hatten, machten sich auch Max und Vim wieder auf den Weg nach drinnen.

Sie verriegelten das Haupttor und schlossen damit die einsetzende Dämmerung aus.

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