Kapitel 18 – Caligo

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Endlich mal ein Wechsel.

Obwohl erst drei Tage vergangen waren fand er es erstaunlich wie schnell er sich davon gelangweilt fand immer nur am Haupttor zu stehen und den Fahrzeugen am Beginn seiner Schicht nachzusehen wie sie zwischen den zertrümmerten Häuserskeletten hindurch in die Ferne fuhren. Und danach kam das Warten. Das Warten, bis sie wieder zurückkamen und die Schicht für ihn endete.

Mehr geschah die ganze Zeit nicht.

Doch nun wurde er versetzt, an eine neue Stelle. Auch wenn diese sich von der Beschreibung die Ric ihm gegeben hatte nicht wirklich besonders viel spannender, sondern eher sogar noch langweiliger anhörte war er froh darüber. Ein kleiner Tapetenwechsel vor dem eigenen Auge wirkte wahrlich Wunder.

Und so stand er nun nicht mehr vor dem Haupttor, an der frischen Luft und in der Sonne, sondern durfte sich mit den beiden silbernen,rostgerahmten Türen begnügen.

Kammerwache.

Aber es gab hier einige unerwartete Lichtblicke in der Trübheit des Nichtstun.

Denn nach ein paar Stunden setzte hinter den beiden Flügeln auf der linken Seite ein Kratzen ein. Erst ganz langsam und zog sich dann immer weiter nach unten auf die Ebene zu, auf der er die letzten paar Stunden seiner Sicht verbracht hatte.

Als das Kratzen am lautesten war ruckelte es ein paar Mal und verstummte dann, worauf ein kleines Ding ertönte, woran sich Vim nicht erinnern konnte, das es auch seine Ankunft angekündigt hatte. Ein feineres Schaben setzte mit ein und die beiden silbergrauen Flügel der Schiebetüren schoben sich langsam auf. Gaben den Blick frei auf einen zusammengesunkenen Haufen, den Vim erst auf den zweiten Blick als einen Menschen erkannte.

Er trat zu der Person in den kleinen Raum der Kammer und seine dicken Stiefel quitschten über den abgenutzten Linoleumboden. Er ging neben dem Kopf in die Knie und und schob die langen, grau durchsetzten, braunen Haare mit der Hand auf die Seite. Vor ihm auf dem Boden lag eine Frau mittleren Alters, den Kopf in den Boden gedrückt. Ihre Arme, die aus einer zerschlissenen, grauen Weste herausragten waren fast schon unter ihrem Bauch verknotet, was dazu führte, dass der ganze Rest des Körpers wie ein großer Buckel darüber lag. Die Beine waren angewinkelt und parallel fast bis auf höhe des Brustkorbes angezogen. Sie lag da wie ein missgebildeter Embryo.

Vim zog ihre Beine gerade und rollte sie von ihren Armen auf den Rücken, sodass sie ausgestreckt vor ihm am Boden lag.

Vim setzte ihren Oberkörper auf, zwängte seine Arme unter ihren Achseln hindurch und verschränkte diese vor ihrer Brust. Er war zu aufgeregt um wirklich zu erfassen wo seine Hände nun lagen, als er die Dame anhob und aus der Kammer zog.

Vor der Kammer waren zwei weitere Wachen aufgekreuzt während er nur Augen für die Dame hatte. Irgendwie musste die mitbekommen haben das die Kammer gekommen war. Vlt auch durch das leise “Ding” das er gehört hatte, aber nicht eine einzige Erinnerung daran hatte, das er sie schon einmal vernommen hatte.

Er übergab sie an die anderen beiden und die trugen sie zwischen sich hinfort in das momentane Aufnahme Zelt in irgendeinem Winkel der Zeltstadt.

Und so war Vim wieder alleine, mit seinen Gedanken und mehr noch als die Frage wieso die anderen von der Ankunft wussten war die Frage des Woher.

Woher war die Frau bloß gekommen.

Woher war er gekommen.

Die Aufzugkammer musste ja von oben kommen, wenn er daran dachte wie es ihn, als sie langsamer geworden war auf den Boden zurück gedrückt hatte. Aber was war dort oben? Während den letzten Tagen, die er zusammen mit Max vor dem Haupttor hin und her spaziert war, war ihm das verlassene Einkaufszentrum in den Sinn gekommen, das sich direkt über ihren Köpfen und der großen Halle erstreckte. Aber laut Max gab es dort oben keinen Aufzugschacht mehr, in dem ein Aufzug fahren konnte. Sie waren wenn dann alle eingebrochen oder die Kammer des Aufzuges hing noch auf irgendeiner Ebene in ihrem Schacht verteilt.

Also mussten die Kammern ja fast schon aus dem Nichts auftauchen, wie eine göttliche Erscheinung. Und war es das in gewisser Weise nicht auch?

Gerne wäre Vim selber dort durch das Einkaufszentrum geklettert und hätte die Aussagen von Max nachkontrolliert aber er konnte ja recht schlecht von seinen Posten vor dem Tor weg. Zumindest an den ersten Tagen erstmal nicht. Vielleicht würde er ja noch irgendwann die Chance dazu bekommen selber nachzusehen. So lange musste er ihm glauben.

Nicht allzu lange nachdem die Frau weggebracht worden war, ließ sich auch Red vor den Kammern blicken.

Er kam aus dem Gang der zur Zeltstadt führte, wahrscheinlich hatte er dort einen Blick auf den Neuankömmling geworfen und machte sich nun wieder auf den Weg in sein Büro. Gerade als er die ersten Stufen der Treppe erklimmen wollte sprach Vim ihn an.

“Red. Hätten sie ein paar Minuten Zeit?”

Red blieb daraufhin stehen. Die rechte Hand schon am Geländer und einen Fuß erhoben stand er da wie eine Statue, ehe er den Fuß wieder zurück auf den Boden setzte und sich zu Vim umdrehte.

“Klar was gibts?” flötete er. Er musste bisher einen recht guten Tag gehabt haben.

“Ich hätte nur eine kleine Frage im bezug auf die Kammern. Und vielleicht wissen sie es ja, oder können mir zumindest eine Erklärung dafür liefern die einigermaßen plausibel klingt.” begann Vim und wurde sofort wieder von Red unterbrochen.

“Wenn es darum geht woher die ganzen Leute kommen, die da immer drin liegen, kann ich dir nicht helfen.” sagte er “Und ich möchte das auch gar nicht. Nur die Götter wissen wo sie herkommen und warum sie zu uns kommen.” fügte Red noch mit hinzu.

“Es geht zwar in die Richtung,” gestand Vim “Aber so direkt hat es nichts damit gemeinsam. Ich frage mich nur wo die Schächte, in denen sich die Kammern bewegen, eigentlich befinden. Max, der mit mir die Wache am Tor gehalten hat, meinte das es die oben in der Kaufhausruine gar nicht gibt. Weißt du wo sie verlaufen?”

Red überlegte was er genau sagen sollte, bevor er begann: “Um ehrlich zu sein weiß es hier unten keiner so genau. Auch hier werden dir nur die Götter die Antwort liefern können. Aber,” er machte eine theatralische Pause bevor er weiter sprach, “wir haben in den Resten der Mall wirklich schon einmal nach den Schächten gesucht, und sind nicht fündig geworden. Wir können nicht genau sagen wo sie sich entlang bewegen und müssen wohl einfach daran festhalten das die Götter den einzigen Ort kennen durch den sie durchführen.”

Er seufzte und machte sich an den Aufstieg über die Treppe nach oben ohne eine Antwort abzuwarten. Auf halber Strecke warf er Vim, der wie versteinert wieder in Gedanken versunken zwischen den Kammern stand, noch einen Satz über die Schulter zu: “Und am Besten ist es, wenn man sich gar nicht erst damit befasst.”

Dann war er oben verschwunden und ließ Vim zurück, der mit dem Inhalt dieses Gespräches nichts anzufangen wusste. Er war sich nur sicher, das er den letzten Satz nicht einhalten würde.

Das alles machte ihm mehr Gedanken als es sollte.

 

Er schaut auf die Uhr, die zwischen den beiden Kammern an der Wand über ihm hängt. Lange hat er hier nicht mehr Dienst für heute und er kann es kaum mehr erwarten sich wieder richtig bewegen zu können und nicht nur andauernd auf einer Stelle zu stehen. Aber es ist nun mal so wie es immer ist, wenn man nichts zu tun und keine Ablenkung hat dauern Minuten Stunden und das Herz schlägt gefühlt schneller als der Sekundenzeiger.

Während Vim so da steht und darauf wartet, dass seine Ablöse auftaucht und ihn endlich in seinen wohlverdienten Feierabend schickt setzt zu seiner linken wieder das Kratzen der Kammer ein. Heute gibt es wieder zwei Glückliche, denkt er für sich und hätte die Worte auch fast laut ausgesprochen. Sie hätte zwar niemand gehört aber unwohl wäre es ihm trotzdem gewesen. Er wollte nicht nach so wenigen Schichten schon anfangen Selbstgespräche zu führen.

Er trat ein paar Schritte von der Wand weg und brachte sich vor den angerosteten Türen in Stellung, hinter denen das Kratzen lauter wurde.

Er war auf alles gefasst, nur nicht auf das was ihn erwartete als die Türen mit ihrem Metall-auf-Metall-Kreischen auseinanderstoben.

 

In der Kammer lag keine Person, sondern mittig auf einer umgedrehten Kiste aufgerichtet, so als wolle sie sich ihrem Gegenüber von ihrer besten Seite präsentieren, eine silberne Pistole und eine golden glänzende 9mm Kugel.
Das was Vim am meisten daran schockierte war nicht die Tatsache, dass er damit nicht gerechnet hatte, sondern das auf beiden Gegenständen Nummern angegeben waren.
Am Griff der Pistole, der aus dunklem Holz gearbeitet war war die Nummer 347 eingeritzt, seine Nummer.

Und mit schwarzer Farbe sprang ihm von der Kugel auch eine Nummer entgegen.

Die Nummer 348.

Lux.

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