Kapitel 6 – Caligo

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Seit ihrer Ankunft im Livestock waren nun zwei Tage vergangen, aber Vim hatte es trotzdem nicht geschafft, Augi das zu sagen was er sich vorgenommen hatte. Er hatte zwar am Tag danach wieder mit ihm bei den Pilzfeldern gearbeitet, aber irgendwie brachte er es nicht über das Herz nachdem ihm Augi davon erzählt hatte wie gut die Götter doch zu ihnen seien und wie sehr sie alles geplant hatten.

Auch Red war ja nicht ganz so begeistert gewesen als Vim begonnen hatte dagegen zu reden, deshalb ließ er es bleiben. Zumindest vorerst.

Vielleicht würde sich zu einem späteren Zeitpunkt ja noch eine günstige Gelegenheit ergeben, um dieses heikle Thema anzusprechen.

Und heute hatte er definitiv keine solche Gelegenheit, den Augi war nach dem Holzverschlag in Richtung des anderen Gleisbettes abgebogen und schob heute eine Schicht beim Gemüse. Trotzdem hatten sie sich vor der Schicht miteinander verabredet, das sie sich danach bei Vim im Zelt treffen würden. Immerhin hatten sie nun seit kurzem auch eine Sitzgelegenheit, da sie zwei alte Campingstühle und einen klapprigen, beigen Tisch hingestellt bekommen hatten.

Während keiner im Zelt 94 gewohnt hatte, für fast drei Wochen in denen keine Neuankömmlinge den Weg in den Livestock gefunden hatten, war das Mobiliar woanders verwendet worden und kam nun langsam in seine Heimat unter dem dreckig blauem Plastikhimmel zurück.

Vim war glücklich darüber das dieser Besuch stattfinden würde, er freute sich schon richtig darauf, den Augi war durch eine kränklich wirkende Frau in der Schicht ersetzt worden. Und die sprach, auch als Vim von sich aus versuchte ein Gespräch anzufangen, kein einziges Wort mit ihm, sondern starrte nur mit festem Blick auf die kleinen weißen Knollen die vor ihnen aus der dunklen, feuchten Erde sprießten. Er erfuhr von ihr nicht einmal ihren Namen, aber sein Kopf versuchte fast die ganze Schicht einen passenden Namen für sie und ihre leicht verdrehte Figur zu finden. Kam dabei aber zu keinem richtigen Ergebnis und rutschte mit seinen Gedanken immer wieder auf die Götter zurück, wo er dann schließlich auch hängen blieb.

Was die Götter wohl zu der Dame gesagt hätten? Oder ging es ihr genauso wie ihm, Aussage verweigert? Aber er fragte nicht nach sondern ließ seine Gedanken weiter im Stillen immer größer werdende Kreise ziehen.

Was wenn die Götter auch ihr klare Instruktionen gegeben hatten? Und nur er war der Abtrünnige, den die Götter zwar retteten und hierher in Sicherheit brachten, aber trotzdem irgendwie verstoßen hatten. Ihn zappeln ließen ohne ihren Plan mit ihm zu teilen.

Er fühlte sich leer an.

 

Später, als sich seine Aufmerksamkeit endlich von den Feldern und den Göttern weg und hin zu seinem Treffen mit Augi richten konnte besserte sich seine Laune augenblicklich.

In ihrem Zelt herrschte noch totale Ruhe, außer natürlich den Geräuschen die durch die Planenwände zu ihm herein drangen, denn die Schicht die Mia heute hatte war versetzt zu seiner, somit würde sie erst sehr viel später wieder in das Zelt zurückkehren.

Vim ließ sich in einen der etwas ausgeleierten Campingstühle fallen, seiner hatte einen dreckigen Dunkelgrünton, streckte die Beine aus, und atmete tief und geräuschvoll aus, den die Last des Tages floß aus den Muskeln in seinen Schenkeln.

Er schloss die Augen und lehnte den Kopf nach hinten in den Nacken. Nur ein bisschen Pause.

Augi würde erst in einer guten halben Stunde vorbei kommen.

 

Und diese halbe Stunde nutzte er unabsichtlich für ein Nickerchen. Er schaffte es einfach nicht mehr die Augen wieder aufzuschlagen und döste traumlos vor sich hin. Sog wieder Kraft in sich, bis ihm jemand leicht an der linken Schulter rüttelte. Er schreckte auf und sah Augi direkt in die Augen, der vor ihm über seinen immer noch ausgestreckten Beinen stand.

Nachdem Augi es sich in dem anderen Campingstuhl niedergelassen hatte, dieser war in einem dunklen Blau gehalten, begann Vim mit dem Gespräch.

“Ich würde mit der gerne wegen den Göttern reden.” tastete er sich langsam vorwärts.

“Können wir gerne machen.” Augi sah etwas verwundert aus. “ Aber es ist ja schon ein Wunder das du überhaupt mal einen längeren Satz als zwei Wörter herausbringst.” Er lachte auf.

“Können wir bitte versuchen ernst zu bleiben?” unterbrach ihn Vim, “ Ich finde das für mich echt ein schwieriges Thema, vor allem weil,… weil ich mir mit dem ganzen nicht sicher bin. Also ich glaube, weiß nicht ob man das so ausdrücken kann, das die Götter sich vor mir verschlossen haben. Mich also irgendwie … ehm … ausgrenzen.”

Vim sah Augi fragend an und stellte sich innerlich schon auf eine scharfe Antwort von ihm ein, doch die blieb aus. Aber er konnte sehen wie sich Augis Stirn in Falten legte und die Gedanken dahinter hin und her flitzten um einen verständlichen Satz hervorzubringen.

“Wie genau kommst du darauf?” Der Satz war eher zwischen den Lippen hervor gepresst als richtig gesprochen.
“Naja, ich habe das Gefühl, und werd es auch nicht los, dass ich der einzige bin der hier angekommen ist und keinerlei Anweisungen oder Anstöße von den Göttern erhalten hat, was ich tun soll oder wo ich etwas tun soll. Ich kann deswegen auch nicht so wirklich verstehen wie ihr alle so zu ihnen aufblicken könnt. Und bitte fass das ganze jetzt nicht als irgendwelchen Angriff auf dich auf, aber es kommt mir komisch vor. Als wäre ich fremd. Ein Aussätziger unter Gesunden”

Vim wusste selber nicht wie er auf den letzten Satz gekommen war, aber er gefiel ihm im Nachhinein irgendwie, den es stimmte, und es traf sein Empfinden genau ins Schwarze.

“Ehmm.. “ Augi saß da und dachte wieder, weshalb sich die beiden erstmal eine Zeit lang schweigend gegenüber saßen und sich anstarten.

Vim begann noch einmal, “Also versteh es echt nicht falsch, aber.. “

“Schon gut” unterbrach ihn Augi,”und mach dir deswegen nicht so einen Kopf.” Eine kleine Pause. “Aber es kann jedem mal so gehen, das die Götter nicht antworten, das sie für jemanden schweigen und ihn somit auf eine Probe Stellen, oder vlt größeres mit ihm vorhaben und deshalb nicht alles eröffnet bekommt. Versuch es doch auch mal so zu sehen. Außerdem, nur weil sie dir nichts vorbestimmt oder mit dir gesprochen haben, heißt noch lange nicht das du nicht auch ein Kind von ihnen bist. Schließlich haben sie auch dich gerettet und hierher gebracht. Hatten sie Missgunst für dich übrig gehabt wärst du wahrscheinlich schon längst draußen verrottet oder schon wieder eingefordert worden.”

“Du meinst, das sie mich hergebracht und dann gleich wieder sterben hätten lassen?”

“Nein,” erwiderte Augi,” aber stimmt, du bist noch nicht lange genug hier, als das du davon wissen könntest, wenn es dir niemand erzählt hat. Wundert mich aber ehrlich gesagt auch nicht, da es ein Thema ist, über das nicht gerne gesprochen wird, eher verdrängt.”

“Willst du es mir dann sagen?” Vim erkundigte sich, da er eine böse Vorahnung hatte, das ihn so ein Schicksal ziemlich schnell ereilen würde.

“Also eigentlich glaube ich, dass das etwas für Red wäre, oder du eh mit der Zeit lernst.. “ versuchte Augi auszuweichen, auch sein Blick huschte durch das Zelt.

“Ach, komm schon,” bettelte Vim “dann lass ich dich auch erstmal mit dem Thema in Ruhe.”

Augis Gesichtszüge und Stimme hatte jegliche Motivation verloren. “Meinst du wirklich, dass du das wissen willst?”

“Aber natürlich!” Vim konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Irgendwie kam er sich schon schlecht dabei vor, Augi so aufzuziehen aber zum anderen bereitete es ihm auch eine gewisse Freude und Ablenkung von seinen Gedanken zu dem Thema, so wie wenn man einen Schritt zurück macht und sich ein Bild von der Ferne betrachtet. “Schieß los.”

Augi druckste weiter herum, ließ sich aber letztendlich dann doch darauf ein, allerdings erst, als er sich bei Vim rückversichert hatte, dass er ihn danach erstmal mit dem Thema in Ruhe lassen würde.

“Ok, gut. Nur wie fang ich damit jetzt am besten an…” Augis Blick wanderte zurück zu Vim. “Wie viel weißt du über unsere Aufgaben für die Götter. Also was hast du schon mal gehört oder aufgeschnappt?”

Vim überlegte kurz. “Im Prinzip eigentlich noch gar nichts wenn ich mich richtig an die letzten Tage erinnere. Außer du zählst mit dazu das sie uns bei unserer Ankunft einen Arbeitsplatz vorbestimmen.”

“Nein, das zähle ich da noch nicht mit.” Augi legte seine Stirn erneut in tiefe Falten. “ Aber eigentlich beginnt das ganze dort. Das stimmt schon irgendwie. Also bei den Kammern. Über diese kommen nämlich nicht nur neue Gerettete, die in unserer Oase hier leben dürfen, sondern auch Aufgaben die wir dann zusammen in einem gewissen Zeitraum zu erfüllen haben. Wenn wir diese erledigen belohnen die Götter uns und wir bekommen etwas Gutes mit einer der nächsten Kammern. Etwas besonderes zum Essen oder wichtige Gegenstände die wir gerade nicht in der äußeren Welt finden können.”
Vim hörte ihm aufmerksam zu, saugte die Wörter förmlich in sich hinein, sobald sie Augis Mund verlassen hatten.

“Die Aufgaben sind meistens simpel, irgendwelche Sachen produzieren oder außerhalb des Livestocks gewisse Utensilien auftreiben, genau dafür wird ein großer Teil der Wache hier unten verwendet.

Doch ab und zu wollen sie nicht so etwas leichtes, sondern fordern einfach einen der Bewohner zurück, manchmal geht es recht schnell, kaum das sie da sind verlassen sie uns auch schon wieder, und es soll auch welche gegeben haben, die schon einige Jahre hier verbracht hatten. Warum genau weiß keiner so wirklich und auch nicht, was mit ihnen dann geschieht. Die Türen der Kammer schließen sich hinter ihnen es rumpelt ein bisschen und dann sind sie weg, für immer. Man hört nichts mehr von ihnen sobald die Türen sich geschlossen haben, nicht mal mehr das Schluchzen und Weinen, das sie erfüllt hat.

Einfach weg.”

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