Kapitel 9 – Caligo

zurück zum Inhaltsverzeichnis

Es dauerte fast noch einen ganzen Tag, bis er Mel dazu überreden konnte, das es ihm wieder gut geht und sie ihn ruhig gehen lassen kann. Die Ärztin ordnete ihm, trotz der noch in seinem Schädel vorhandenen Kopfschmerzen, eine Untersuchung an um entscheiden zu können ob er gehen durfte oder nicht. Die ließ er auch über sich ergehen, aber Dom fand nichts was ihm einen längeren Aufenthalt auf der Krankenstation bescheren würde.

Und so durfte Vim gegen Abend die leicht stickigen Räume der nach Desinfektionsmittel riechenden Station verlassen und kehrte in ihr Zelt zurück, in das mittlerweile auch 348 eingezogen war.

Sie würden sich die Schlafkabine der Herren teilen müssen stellte er fest und als er in das Zelt eintrat fiel ihm auch gleich auf, das sein Zeug auf einer Seite der Kabine zusammengeschoben war. Auf der anderen Seite stand ein weiteres Bett und ein unordentlicher Haufen Klamotten. Er musste unbedingt schauen, das er von irgendwo eine kleine Kiste für die Habseligkeiten herbekam, sagte er zu sich selber. Der Gedanke, das jemand seine Sachen durchsucht haben könnte gefiel ihm nämlich überhaupt nicht.

Da Vim sich immer noch nicht so gut fühlte rückte er sein Feldbett wieder etwas mehr in die Mitte und ließ sich darauf nieder. Er zog eine kleine Decke über sich und schlief schneller ein, als er es erwartet hatte. Zuhause ließ es sich doch immer noch am besten ausruhen.

Vim wurde von lauten Geräuschen im Hauptraum des Zeltes aus seinem Schlaf gerissen. Er hatte gerade davon geträumt in einem Boot, bei Kälte und Schneefall über das raue Meer zu steuern.

Er fröstelte, als er die Decke zurück schlug und sich vom Feldbett erhob und das obwohl er ohne ein Kleidungsstück abzulegen eingeschlafen war. Durch das Gitternetz sah er wie ein sehr dünner, junger Mann, fast noch ein Junge, sich an einem verbeultem Fahrrad zu schaffen machte. Der Junge hatte schulterlange, blonde Haare und ein längliches Gesicht, was aber irgendwie zu seiner besonderen Statur passte.

Vim zog den Reisverschluss auf und schlüpfte auch in den Hauptraum hinüber.

“Hallo,” begann er und ging auf den schlanken Herren zu, “ich heiße Vim. Und du? Wir werden uns so weit ich das gesehen habe diese wunderbare Hütte teilen.”

Vim streckte ihm die Hand hin aber dieser beachtete ihn gar nicht mal und kniete sich nur neben dem Fahrrad nieder. Das einzige was dafür sprach, das er ihn gehört hatte war das er irgendetwas nuschelte, was Vim allerdings nicht wirklich verstand.

“Gut dann halt nicht.” Vim drehte sich um und ließ sich in einen Campingstuhl fallen. “Wir haben ja noch genügend Zeit uns richtig kennen zu lernen.”

Auch hier wieder keine Reaktion und so sah Vim ihm einfach dabei zu wie er begann mit seinen Händen die Speichen des Vorderrades wieder gerade zu biegen. Das Fahrrad im Allgemeinen sah so aus als wäre jemand damit geradewegs und ohne zu bremsen gegen eine Mauer gefahren. Beide Felgen waren verbogen und auch der Lenker war so verdreht, dass er sich sicher nicht mehr für seine eigentliche Aufgabe hernehmen ließ.

“Deine Nummer ist die 348, nicht wahr?” fragte Vim nach einiger Zeit nochmal.

Der junge Mann schnalzte genervt mit der Zunge. “Ja. Warum fragst du so blöd?” Er schaute nicht einmal auf.

Vim fand dieses Benehmen einfach nur unmöglich. Er hatte ihm eine einfache frage gestellt, die er schon beim ersten Mal nicht wirklich beantwortet hatte und nun wurde er einfach nur angegiftet. Er würde die Art allerdings trotzdem erst einmal ignorieren.
“Ich wollte nur wissen, ob du es auch wirklich bist. Soll ich dich dann mit deiner Nummer oder deinem Namen ansprechen? Du musst ihn mir dann nur noch verraten.”

“Lux.” Kam es noch genervter zurück.

“Ok, danke für die Antwort Lux.” fuhr Vim fort, “Und wo arbeitest du wenn ich fragen darf?”

Nun stand der Herr auf, fuhr sich mit der Hand über die Oberschenkel um den Dreck etwas los zu werden, Dann fuhr er herum.

“Das geht dich einen Scheiß an, was ich mache.” Bei dem “Scheiß” flogen kleine Speicheltropfen durch den Raum. “Wieso interessiert es jeden hier was für eine kack Aufgabe man bekommen hat. Versteht ihr nicht das es vlt auch Leute gibt die nicht so wie ihr euer ganzes Leben vorbestimmt haben? Bin ich deshalb etwa nicht normal, nur weil ich diese dämlichen Götter nicht gehört habe oder was?”

Vim hob abwehrend die Hände, immerhin wusste er was Lux meinte. er war also nicht der einzige.

“Schau du verstehst es auch ned. Verdammte Scheiße!” Lux holte mit seinem Bein aus und trat mit vollem Schwung gegen das eh schon malträtierte Fahrrad, das daraufhin scheppernd umfiel. Es sah allerdings nicht viel schlimmer aus, als wo es gestanden hatte.

“Da kann ich mich ja auch gleich selber umbringen, bevor ihr es noch für eure Götter tut und ihnen den Heiden bringt der nicht gut genug ist.”

Er wollte aufgebracht das Zelt verlassen, aber Vim war aufgesprungen und hatte ihn an den Schultern gepackt.

“Lass mich los, du behinderter Spinner.” Lux spuckte ihn an aber Vim ließ ihn nicht los.

“Reiß dich bitte mal kurz zusammen. Nur kurz. Und hör mir mal zu, Bürschchen.” sagte er bloß und Lux stand einfach nur da, den Kopf gesenkt, sodass seine Haare das Gesicht verdeckten.

“Setz dich erstmal her, ich will dir was sagen.” Vim zog Lux zu dem zweiten Campingstuhl und schubste ihn fast schon hinein. Danach ließ er sich wieder auf dem anderen Stuhl nieder. Sie hatten immer noch nur Zwei.

Als er saß begann er: “Auch wenn es dir vielleicht nicht so vorkommt, aber es gibt auch Personen, die hier nicht so von den Göttern betroffen sind, wie du vielleicht von ihnen erwarten würdest. Also würde ich zumindest behaupten. Ich selber habe von ihnen auch nichts gehört als ich hergekommen bin und weiß auch nicht was ich dagegen tun soll, und ich denke, vor allem da es dir auch so geht, dass es sicher noch ein paar gibt. Wer weiß wie es denen ergeht. Und deshalb lass dich davon doch nicht so aus der Ruhe bringen.”

Er wartete auf eine Reaktion von Lux, doch der blieb ruhig so sitzen, wie er ihn hingesetzt hatte.

“Was hast du den zu Red gesagt als er dich nach deiner Aufgabe, deiner Berufung gefragt hat?” fuhr er daraufhin fort, “Lass mich raten, du wusstest nicht einmal was er von dir genau wollte. Er hat es dir erklärt und du wusstest nichts von irgendetwas das dir in der Kammer zugeflüstert wurde.”

Lux bewegte sich immerhin schon mal ein kleines bisschen, wie Vim erfreut feststellte. Er musste also nicht bloß auf Beton gestoßen sein.

“Ich bin mit Mia, der Frau die du vermutlich schon kennen gelernt hast, hier angekommen. Sie wusste was von ihr erwartet wurde aber ich war so wie du einfach nur blank. Also hat Red mich einfach, genauso wie für Mia vorgesehen, bei den Feldern eingeteilt.

Was haben sie zu dir gesagt oder durftest du es selber entscheiden?

Wenn du schon sonst nicht mit mir reden willst, dann beantworte mir bitte diese eine Frage. Danach musst die nie wieder mit mir reden wenn du nicht willst.”

Danach schwiegen sie sich eine Weile einfach nur an und Vim rutschte auf seinem Campinghocker umher.

“Stimmt das alles?” ganz leise fragte Lux das in den Raum hinaus. “Stimmt das was du mir über das bei dir gesagt hast?” Seine Stimme gewann langsam wieder etwas an Kraft.

“Ja.” erwiderte Vim. “Ich schwöre es dir sogar wenn du es willst. Ich sag dir hier nur meine Wahrheit.”

Eine Pause stand im Raum, in der Lux Augen, die Vim nun wieder zwischen den Haaren hervorblitzen sehen konnte, hin und her hüpften während er überlegte was er sagen sollte.

“Nun… Ich…” begann er zu stammeln. “Ich hatte ja nichts gehört und ich bin jetzt auch nicht jemand der sich einfach hält wenn er angegangen wird. Bin vielleicht auch etwas aggressiv geworden. Hab.. ehm…”

Er suchte weiter nach Worten und Vim ließ ihm diese Zeit, war sogar sehr froh, das er redete.

“Ich hab nen Aufstand gemacht, um es kurz zu sagen. Vielleicht auch handgreiflich. Des war wie ein roter Schleier vor meinen Augen.”

Er atmete tief und langsam durch seinen Mund aus.

“Sie haben dann zu mir gesagt, ich könne froh sein wenn sie mich nicht bestrafen und haben mir dann erstmal kleinere Tätigkeiten gegeben bis sie es den anderen Bewohnern zumuten können. Also das ich mit ihnen arbeite. Deswegen soll ich das scheiß Rad reparieren.”
Sein Blick war niedergeschlagen und auf das auf der Seite liegende Rad gerichtet.

“Wenn du dir aussuchen könntest, wo du arbeiten sollst, was würdest du nehmen?” fragte Vim ihn.

Lux sog die Luft ein. “Ich glaube ich würde zur Wache gehen. Das würde mir glaub ich am ehesten liegen.” sagte er daraufhin.

“Wenn du dich entscheiden dürftest,” fragte Lux ihn zurück, “würdest du wieder zu den Feldern gehen? Oder dich umentscheiden?”

“Ich weiß es nicht.” war das einzige was Vim zu sagen wusste.

Aber er wusste was zu tun war.

Zwei Stunden später saß Vim wieder auf einer Kiste vor Reds provisorischen Schreibtisch. Er wusste das er wegen Lux etwas unternehmen musste. Wenn er weiter so niedergeschlagen bleiben würde, und vor allem ohne richtige Aufgabe, ausgegrenzt, daran wollte er gar nicht denken.

Dies war also der einfachste Weg, schlimmeres zu verhindern.

Gus, der allen Anscheins nach der private Begleiter von Red war öffnete die Tür und Red trat herein, umrundete den Schreibtisch und ließ sich nieder.

“Womit kann ich dienen?” fragte er gleich und legte seine gefalteten Hände vor sich auf die Tischplatte. “Gefällt ihnen irgendetwas nicht oder haben sie einen Wunsch? Alles raus damit.” Er lächelte.

Vim lehnte sich auf der Kiste nach vorne, bevor er zu sprechen begann. “Es geht um den Neuen, Lux wie er sich genannt hat, er würde gerne der Wache beitreten. Dann hätte er auch etwas sinnvolles zu tun und wäre nicht mehr so schrecklich drauf.”

“Nein” kam es sofort als Antwort. “Das kann der vergessen.” Das “der” spuckte er dabei verächtlich aus.

“Aber…” versuchte Vim die Situation zu klären, wurde aber sofort wieder von Red abgeschnürt.

“Kein aber. Wenn jemand sich hier in meinem Büro wegen einer einfachen Frage so aufführt werde ich dem sicher nicht unsere Sicherheit anvertrauen. Und eine Waffe in seinen Händen, das kann er erst recht vergessen.”

Red kam jetzt erst richtig in Fahrt.

“Der wird mit einem Finger am Abzug durch die Welt rasen und wenn ihm etwas nicht passt stempelt er seinem Gegenüber ein Loch in die Stirn. Und dann will ich garnicht erst wissen, was uns von den Göttern bevorsteht. Warum auch immer sie so einen Ungläubigen retten möchten.”

Mittlerweile war Red aufgestanden und wanderte hinter dem Schreibtisch auf und ab.

“Und dann hat er nicht einmal den Anstand, selbst hier zu erscheinen, sondern schickt dich vor. Das sieht ihm ähnlich. Aber der braucht da gar nichts zu erwarten.”

“Eigentlich,” versuchte Vim es noch einmal und diesmal war es ihm gegönnt weiter zu sprechen, “komme ich von mir aus hier her. Ich glaube Lux hat eh schon mit allem abgeschlossen und wartet nur darauf das die Götter ihn zurück fordern. Und er weiß das er überreagiert hat.”

“Also wenn ihm das nicht aufgefallen wäre dann weiß ich auch nicht mehr weiter.” keifte Red.

“ Was ich damit sagen möchte ist, dass es ihm Leid tut. Mir hat er sich anvertraut und es hat sich auch so angehört als wäre diese Überreaktion nur daher gekommen, da ihn die Situation komplett überfordert hat. Mir ging es ja genauso. Nur manche werden stiller, wie ich, und manche drehen dann richtig auf.”

Langsam tastete er sich zu dem vor was er eigentlich sagen wollte und so fuhr er fort.

“Ich bin der Meinung, das er noch eine Chance verdient hat. Nur die müsstest du ihm geben. Und die Götter werden gewusst haben wie er ist, und das er auch ein starker Teil unserer Gesellschaft werden kann. Sonst hätten sie ihn vermutlich echt nicht hergebracht.”
Vim machte eine kleine Pause und wartete auf eine Reaktion von Red. Dessen Atmung hatte sich immerhin schon ein bisschen beruhigt und er setzte sich auch wieder auf seinen Stuhl. Also erreichten seine Worte ihr Ziel.

“Nun ist wirklich nur noch die Frage, ob du ihm diese Möglichkeit sich zu Beweisen einräumen willst. Ob du den Göttern zeigen willst, das du bereit bist, Ihren Willen weiter umzusetzen.” Er wartete und schob dann noch ein “Bitte” nach.

Red saß einfach nur da, die Hände vor der Brust verschränkt, und knetete mit den Zähnen seine Unterlippe.

“Also gut.”

Die Worte kamen langsam, so als würde er jedes dieser Wörter noch einmal in seinem Kopf überschlagen bevor es wirklich seinen Mund verließ.

“Aber nur unter einer Bedingung.”

“Kein Problem.” erwiderte Vim.

Red beugte sich über seinem Tisch nach vorne.

“Er muss eine Prüfung ablegen. Und er muss uns beweisen und überzeugen können, das er sich auch anständig benehmen kann.

Er hat nur diese eine Chance und wenn er sie wieder verspielt. Dann kann er schauen wo er bleibt.”

nächstes Kapitel

zurück zum Inhaltsverzeichnis